Aufmüpfige daher!


    Die Stimme der KMU und der Wirtschaft


    (Bild: zVg) Henrique Schneider

    Es stehen nationale Wahlen an. Noch nie haben so viele Leute kandidiert. Das ist gut so! Denn die Politik muss die Vielfalt der Gesellschaft abbilden. Demokratie will keinen Konsens. Sie braucht Aufmüpfige.

    Selbstverständlich funktioniert die Politik mit Mehrheitsentscheiden. Selbstverständlich braucht es hie und da einen Kompromiss. Aber die Aufgabe der Politik ist, die Vielfalt der Bevölkerung abzubilden. Das ist gerade im Schweizer System so gewollt.

    Unser Parlament ist Miliz. Gemäss Verfassung stimmen die Mitglieder der Räte allein nach ihrem Gewissen. Das sind bewusste Entscheide gegen Berufspolitiker und gegen Fraktions- und andere Zwänge. Mehr noch: Das sind bewusste Entscheide, um die Vielfalt im Parlament zu sichern. Denn gerade die Diskussionen, die an Stammtischen und Familienfeiern geführt werden, sollen sich auch in der Politik wiederfinden.

    Ein weltoffenes Land mit vielen Sprachen und unterschiedlichen Regionen braucht den freien Austausch der Ideen. In der harten Auseinandersetzung, bei der auch die Fetzen fliegen können, entstehen Ideen. In Tat und Wahrheit sind viele Sachen, die heute gerne als Schweizer Trümpfe angepriesen werden, die Frucht von Kontroversen.

    Ein Beispiel dafür ist das fakultative Referendum. Es wurde erst 1874 eingeführt. Der Grund war eine unheilige Allianz zwischen verschiedenen aufmüpfigen Kräften gegen den sogenannt liberalen Mainstream. Die Aufmüpfigen wollten dem Volk das Recht geben, gegen Gesetze vorzugehen.

    Der Mainstream glaubte nicht, dass das Volk ein Gesetz beurteilen kann. Die Plakate aus der Zeit zeigen das Volk als hysterische Frau, welche Gesetze zerreisst. Darüber steht die Aufschrift «Schöne Aussichten».

    Trotzdem haben sich die Aufmüpfigen durchgesetzt. Heute zählt das fakultative Referendum zu den Hauptpfeilern der direkten Demokratie. Im Übrigen gilt das gleiche für das elementare Frauenwahlrecht. Leute, die das forderten, wurden als Spinner taxiert. Diese Aufmüpfigen setzten sich durch – Gottseidank!

    Die wirtschaftliche Unabhängigkeit ist auch ein Trumpf der Schweiz. Dank ihr geht es dem Land sehr gut. Mit praktisch keiner Armut steht die relativ kleine Schweiz unter den zwanzig grössten Volkswirtschaften der Welt als wettbewerbsfähigstes Land dar. Die heutige Spitzenposition geht unter anderem auf den Entscheid zurück, nicht dem Europäischen Wirtschaftsraum beizutreten.

    Auch hier: Die politischen Gegner des Beitritts zum «Trainingslager für die EU» wurden vom Mainstream ihrer Zeit als Spinner taxiert. Doch die Aufmüpfigen haben sich durchgesetzt. Die EU und die EWR-Länder befinden sich im Niedergang. Die Schweiz blüht.

    Natürlich haben Aufmüpfige nicht immer Recht. Natürlich ist Aufmüpfigkeit der Aufmüpfigkeit wegen auch nicht klug. Doch es geht darum, den Mainstream herauszufordern. Gerade dadurch wird der Mainstream selber besser. Bekanntlich sollte man das Richtige aus den richtigen Gründen tun. Beides findet man nur, wenn man sich mit anderen Positionen auseinandersetzt.

    Und damit sind wir glücklich wieder bei den National- und Ständeratswahlen angekommen. Man kann schon reklamieren, dass das Kandidatenfeld unübersichtlich ist. Man kann sagen, die vielen Kandidaturen seien zu teuer und überfordern gar die Gemeinden. Das sind aber nebensächliche Einwände. Demokratie hat ihren Preis.

    Wichtig ist, den Nutzen nicht aus den Augen zu verlieren. Je mehr unterschiedliche Leute in der Politik mitmachen, desto besser sind ihre Ergebnisse. Und desto mehr Leute identifizieren sich mit dem Ort, wo sie wohnen, der Schweiz.

    Ein Wermutstropfen bleibt: Es wäre schön, wenn diese Kandidatur-Begeisterung nicht nur die nationalen Wahlen betreffen würde. Es braucht auch auf Gemeinde- und Kantonsebene Leute, die mitarbeiten. Es wäre gut, wenn sich die gleiche Begeisterung näher am Wohnort manifestieren würde. Bundesbern ist schön, doch die eigene Gemeinde ist noch schöner.

    Aufmüpfige müssen her. Sie müssen den Mainstream herausfordern. In Bern, im Kanton und in den Gemeinden.


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    Zur Person:
    Henrique Schneider ist Verleger der «Umwelt Zeitung». Der ausgebildete Ökonom befasst sich mit Umwelt und Energie aber auch mit Wirtschafts- und internationaler Politik.

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